Interview zum Thema Tele-Epileptologie Ruhr
Einzelheiten zum Modellprojekt „Tele-Epileptologie“ erläuterten jetzt in einem Interview Prof. Dr. Jörg Wellmer, Leiter der Ruhr-Epileptologie, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum; Prof. Dr. med. Rüdiger Hilker-Roggendorf, Chefarzt der Klinik für Neurologie, Klinikum Vest und Miriam Mislisch, Oberärztin der Klinik für Neurologie, Klinikum Vest.
Was versteht man unter Tele-Medizin?
Tele-Medizin erlaubt eine Beteiligung medizinischer Spezialisten an diagnostischen und therapeutischen Entscheidungsprozessen auch dann, wenn sie räumlich getrennt von Patienten sind. In folgenden Situationen ist das besonders sinnvoll:
- Bei Notfällen
- In elektiven Situationen, bei denen ein Transfer des Patienten zum Spezialisten vermieden werden soll
Besonders erfolgreich wurde die Tele-Medizin im Ruhrgebiet für die Schlaganfallbehandlung etabliert. Über die Netzwerke des Westdeutschen Teleradiologieverbundes können CT und MRT-Untersuchungen von erstaufnehmenden Akutkrankenhäusern an Kliniken mit Stroke-Units und interventionellen Neuroradiologien verschickt werden. Dort wird entschieden, wie ein Patient idealerweise therapiert und ob er an ein Spezialzentrum verlegt werden sollte. Hierdurch hat sich die Behandlung von Schlaganfallpatienten nachweislich gebessert. Der Aufwand rechnet sich vermutlich auch für die Sozialsysteme. Durch eine schnellere Therapie des Schlaganfalls wird bei vielen Patienten der dauerhafte Behinderungsgrad reduziert.
Wie etabliert ist die Schlaganfall-Telemedizin im Klinikum Vest bzw. im Knappschaftskonzern allgemein?
Dem Klinikum Vest werden zirka 300 Patienten/Jahr mit einem Schlaganfall über die Teleradiologie vorgestellt.
Aus dem Knappschaftskonzern sind bislang diese Klinken an den Westdeutschen Teleradiologieverbund angeschlossen: das Klinikum Westfalen, das Knappschaftskrankenhaus Bottrop, das Klinikum Vest, und das Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum.
Welchen Sinn macht es, telemedizinische Strukturen auch in der Epileptologie einzuführen?
Wie in der Schlaganfallmedizin gibt es bei der Diagnostik und Therapie anfallsartiger Erkrankungen eine Zentralisierung von Erfahrung und apparativer Ausstattung an bestimmten Kliniken. Die 2010 an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Knappschaftskrankenhaus Bochum gegründete Ruhr-Epileptologie ist das Epilepsie-Referenzzentrum für das gesamte Ruhrgebiet und die südlich angrenzenden Regionen. Innerhalb des Knappschaftsverbundes ist sie die einzige Einheit, die alle diagnostischen und therapeutischen Verfahren von einer Referenzambulanz über das Video-EEG-Monitoring bis hin zur minimal-invasiven Epilepsiechirurgie anbietet.
Inhaltlich macht eine epileptologische Telemedizin vor allem aus folgenden Gründen Sinn:
- Zur Unterscheidung, ob ein Patient mit anfallsartigen Ereignissen überhaupt unter einer Epilepsie leidet. Wegen der Kürze der Ereignisse sehen Ärzte die Ereignisse, die sie therapieren sollen, selber häufig nicht. Verwechselungen mit psychogenen Anfällen und Synkopen sind daher nicht selten. Hier trägt ein Epilepsiereferenzzentrum mit speziellen Anamneseerhebungen und apparativen Untersuchungen zur korrekten Diagnose bei.
- Bei Patienten mit medikamentös schwer behandelbaren Epilepsien kann ein Epilepsiereferenzzentrum komplexe medikamentöse Neueinstellungen vornehmen, oder aber überprüfen, ob sie von Epilepsiechirurgie profitieren können.
- Liegt ein Patient mit einem Daueranfall (Status) auf der Intensivstation, hilft die Ruhr-Epileptologie bei der Differentialdiagnose. Im Status epilepticus kann die Ruhr-Epileptologie Empfehlungen zu optimalen medikamentösen Therapie geben. Hierdurch kann nicht selten eine Verlegung des beatmeten Patienten in das Epilepsiereferenzzentrum vermieden werden.
- Auch bei gut eingestellten, anfallsfreien Epilepsiepatienten gibt es Fragestellungen, bei denen Fachärzte Empfehlungen benötigen: Welche medikamentösen Vorsichtsmaßnahmen sind bei einer geplanten Operation nötig? Wie muss die antiepileptische Medikation angepasst werden, wenn ein Epilepsiepatient dialysepflichtig wird? Sollte bei einem Schwangerschaftswunsch die antiepileptische Medikation umgestellt werden? etc.
Kommt es auch im Klinikum Vest, einem Krankenhaus mit eigener erfahrener neurologischer Klinik dazu, dass Sie Fragen an die Epilepsiespezialisten haben?
Ja, unbedingt. Gerade auch in Hinblick auf die Möglichkeit einer Epilepsiechirurgie.
Wie häufig ist das?
In der Anfangsphase sind es vermutlich zwei bis vier pro Monat - alleine aus dem Klinikum Vest.
Haben Sie auch schon Patienten an die Ruhr-Epileptologie verlegt?
Ja.
Wie wurde das Projekt Tele-Epileptologie Ruhr technisch realisiert?
Ziel der technischen Entwicklung der Tele-Epileptologie war zweierlei: erstens sollten Kliniken datenschutzkonform Patienteninformationen und Untersuchungsdaten (Anfallsvideos, pdf, jpg, png, Dokumente u.v.m.) austauschen zu können, die für die telemedizinische Mitbeurteilung von Patienten nötig sind. Das haben wir mit der Programmierung einer online-Patientenakte (Web-Tool) erreicht. Zweitens sollten über die bestehende Teleradiologie-Vernetzung nicht nur CT und MRTs verschickt werden können, sondern auch EEGs und Video-EEGs. Dieses haben wir durch eine „Verpackung“ von EEG und Video-EEG in das DICOM Format geschafft. Unseres Wissens ist das bislang weltweit einmalig.
Sowohl die sendenden Ärzte, als auch die Referenz-Epileptologen in Bochum können sämtliche benötigten Elemente bequem von einem einzigen Rechner aus bedienen, ggf. sogar per Fernzugriff von zuhause.
Diese Entwicklungsarbeit war nur dadurch möglich, dass wir starke Partner ins Boot geholt haben. Die DICOM-Verpackung der Video-EEG-Daten wurde von der Firma BESA in München realisiert. Die Einbindung der Versendefunktionen von Video-EEGs in den bestehenden Teleradiologischen Verbund durch die Firmen VISUS und MedEcon. Die Programmierung des Webtools wurde durch die Firma Panvision in Essen umgesetzt. Die Knappschaft Kliniken Service GmbH der Knappschaft (KKSG) hat die Einbindung des Systems in das medizinische Netzwerk der Knappschaft gestemmt und zusammen mit VISUS die Anbindung der ersten Test-Kliniken an das Modellprojekt Tele-Epileptologie Ruhr umgesetzt.
Wie wurden die entstandenen Kosten getragen?
Nun, zunächst muss festgehalten werden, dass BESA, VISUS, MedEcon, KKSG und die Ruhr-Epileptologie das Projekt bislang kostenlos entwickelt haben. Hierfür muss ein riesen Dank ausgesprochen werden. Für die Programmierung des Webtools sowie kleinere Posten (Ethikantrag, Schulungen der beteiligten Kliniken) sind Kosten von ca. 40.000 € eingeplant. Sie werden vom Förderverein Ruhr-Epileptologie e.V. getragen, der seinerseits für das Projekt Tele-Epileptologie Ruhr eine projektbezogene Spende in Höhe von 110.000€ von der Werner Richard - Dr. Carl Dörken Stiftung in Herdecke einwerben konnte. Die verbliebenen Mittel werden benötigt, um nach einer sechsmonatigen Testphase mit den aktuellen fünf Kliniken einen ersten Realbetrieb mit 18 Kliniken über ein Jahr zu betreiben.
Welche Perspektive bietet das Modellprojekt Tele-Epileptologie Ruhr, ggf. auch über die Indikation Epilepsie hinaus?
Sämtliche technischen Entwicklungen des Projektes Tele-Epileptologie Ruhr können mit geringem Aufwand auf andere Anwender und Indikationen übertragen werden.
Erstes Ziel ist, das Webtool nach der Übersetzung ins Englische für die Kommunikation mit unseren Partnern in Estland, Litauen und Rumänien zu nutzen und hierüber die Zuweisung von Patienten zur Epilepsiechirurgie zu vereinfachen (Start im Dezember 2018). Klappt dieses, ist eine weitere internationale Vernetzung der Ruhr-Epileptologie das Ziel.
Die Möglichkeit, Videos über das Webtool zu verschicken, kann auch für Spezialisten für Bewegungsstörungen von großem Nutzen sein. Selbst in bereits etablierten Kooperationsprojekten wie der Ruhr-STIM - hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss aller Knappschaftskrankenhäuser im Ruhrgebiet, die sich dafür einsetzen, Patienten mit neurologischen Bewegungsstörungen (z.B. Morbus Parkinson, Tremor, Dystonie) und Patienten mit chronischen Schmerzen durch eine dauerhafte elektrische Stimulation von Nervengewebe zu therapieren - kann die elektronische Patientenakte bei der Indikationsstellung für Behandlungen, aber auch die dezentrale Dokumentation von Behandlungserfolgen genutzt werden.
Überhaupt ist denkbar, dass sich aus dem Modellprojekt Tele-Epileptologie Ruhr eine telemedizinische Kommunikationsplattform zwischen Krankenhäusern eines Verbundes entwickeln könnte. Hierbei könnte man explizit an den Knappschaftsverbund denken.
In verschiedenen Häusern des Knappschaftsverbundes arbeiten überregional bedeutsame Spezialisten. Stellen Sie sich vor, die Knappschaft könnte mit folgendem Slogan werben: „Egal, ob Sie sich in Sulzbach, Bottrop oder Dortmund vorstellen: an den Krankenhäusern im Knappschaftsverbund haben Sie immer Zugang zum Wissen unserer Spezialisten.“ Welchen besseren Grund gäbe es für Patienten, sich in den Knappschaftskrankenhäusern behandeln zu lassen?